Passionen bei Dänen da

Drei Aufführungen der Matthäuspassion führten das Erfurter Universitätsorchester im Gefolge der AOV Jena, diverser Chöre und Solisten auf eine mehrtägige Reise in die Städte Sønderborg, Haderslev und Odense nach Dänemark.

Es war im nassen März des Jahres 2005.
Sønderborg, unweit der Grenze zu Deutschland, eine verträumte Kleinstadt an der Flensburger Förde, war auch der Ort unserer Unterbringung. Eine Art Jugendherberge mit Finnhütten und vielfältigen anderweitigen Räumen bot die Gelegenheit zu einem regen Besuchswesen und anderen Gesellschaftsspielen wie z.B. Kammermusik bis tief in die Nächte hinein. Bei den Endproben in der gotischen Marienkirche fügten sich die Ensembles der Doppelorchester und –chöre mit den Solisten unter Leitung von Sebastian Krahnert zum von Bach inspirierten Klangkörper zusammen. Unsere Darbietung der Matthäuspassion am 21. März (dem Geburtstag J. S. Bachs) soll, wie es hieß, die Erstaufführung in diesem Ort gewesen sein.

Wie vorgesehen, brachten uns die Reisebusse treulich nach Haderslev, etwas weiter nördlich auf der Halbinsel Jylland. Die dreischiffige Marienkirche (Vor Frue Kirke oder Domkirke) aus rotem Backstein, als Bischofskirche größte Kirche im südlichen Dänemark, war wie das Gotteshaus in Sønderborg innen weiß ausgemalt und beeindruckte, wie dort, durch die hellen naturfarbenen Hölzer des Gestühls und der Verkleidungen – eben „Danish Design“. Alternativ mutete das von der Gemeinde spendierte Abendessen im schicken alt-neuen Gemeindehaus (dunkle Hölzer und ochsenblutrote Wände) an: Eine Kollektion von Hamburgern, jeder davon nach bekannter Art der bekannten Firma einzeln und üppig eingetütet.

Der nächste Abstecher führte unsere Musikantenhorde nach längerer Fahrt auf die Insel Fünen in die drittgrößte dänische Stadt Odense und dort in die „Sankt Knuds Kirke“. Die Gebeine des heiligen Knut, des Schutzpatrons von Dänemark, werden hier aufbewahrt. Mit imponierenden 62 mal 22 Metern Grundfläche zählt der gotische Dom aus dem 14. Jahrhundert zu den bedeutendsten dänischen Sakralbauten.
Erstaunlicherweise war die große Kirke schon etwa anderthalb Stunde vor Beginn angenehm bevölkert. Sebastian bat den Chor eindringlich, auf das Pianissimo im Chor „Wenn ich einmal soll scheiden“ zu achten, das Orchester sollte nahezu unhörbar mitspielen. Wieder eine neue Aufstellungsvariante der Doppelensembles, wieder eine neue Akustik, in die man sich einhören musste. – Wieder erglänzte die Kirche im Lichte der mächtigen Renaissance-Kronleuchter im dänischen Weiß der getünchten Backsteine mit applizierten hellen Holztönen und wir Thüringer Musici erhofften uns hier (aller guten Dinge sind…) den Höhepunkt aller dänischen Passionen – und so geschah es auch – Knut sei Dank.
Nun, es soll hiermit zu Protokoll gegeben werden, der Chor sang Bachs Choral wirklich ergriffen und ergreifend leise. In seiner Bedrückung aber sang/k er dabei zu Boden – etwa um einen dreiviertel Ton… das Orchester, ratlos, begleitete nur noch pantomimisch. Soweit so echt. Programmgemäß soll danach ein kurzer kräftiger Sechstakkord des Continuos die Gemeinde aufschrecken: (Schrumm!) „Und siehe da… (Schrummbrumm!!) … der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stück…“. Der Sänger des Evangelisten blieb jedoch schon im ersten Schrumm! des dramatischen Rezitativs stecken. Schlagartig offenbarte sich seine begreifliche Ratlosigkeit, die Tonalität betreffend, mit einem peinlichen Kickser. In die darauffolgende verschreckte Stille hinein schallte seine lakonisch vorgebrachte Bitte: „Ick brauch da mal nen Ton.“ Da zerriss es gar manchen – nicht nur den Vorhang im Tempel.
Nachdem endgültig „der Herr zur Ruh’ gebracht“ war, setzten wir alle uns nicht „in Tränen nieder“, sondern feierten zurecht diesen erfolgreichen und wunderbaren Aufführungsabend – zeitlich etwas über Gebühr, da die Busfahrer vor der langen Nachtfahrt zuerst ihre tarifliche Ruhezeit bis etwa ein Uhr einhalten mussten.

Kein Wunder, dass sich ein kleiner Trupp (die, die nie genug kriegen können…) zu kammermusikalischem Tun, um die Kollegen nicht zu belästigen, einen geheimen Ort suchten: Justament die Gruftkapelle des heiligen Knut, die sich im Souterrain unter dem hohen Chor des Domes befand – da lag er, beziehungsweise seine „heiligen Gebeine“ (das ist Johannespassion), wie Schneewittchen in einem gläsernen Sarg.
Als die passionsartigen Seufzermotive des zweiten Satzes der Triosonate aus dem „Musikalischen Opfer“ erklangen, erzitterten die alten Knochen leise und wohlig…

Verfasser: Reinhard Schwalbe