Ralf Wienrich (1967): Uraufführung „Zeitdilatationen“

Ralf Wienrich (1967)

Zeitdilatationen

Sind die quasi stofflich empfundenen Dimensionen des Raums für den Menschen noch halbwegs zu greifen und begreifen, stellt die sein Leben so schmerzlich eingrenzende Zeit seit jeher eine Größe dar, die sich seinem Verständnis und Vorstellungsdrang entzieht.

Zwar nahm er sich die natürlichen Rhythmen zu Hilfe, um sie zu fassen, zu strukturieren und zu bändigen – von der Erddrehung bis zur Schwingung eines Cäsium-Atoms. Doch bleibt auch die genaueste Atomuhr ein systemimmanentes Instrument und angesichts der je nach Lebensabschnitt und -fülle so unterschiedlich empfundenen Zeit beschleicht jeden Menschen hin und wieder das Gefühl, dass Zeit keine absolute Konstante sei.

Einsteins mehrfach nachgeprüft es Phänomen der Zeitdilatation hat dem Menschen dies bestätigt: Für eine bewegte Uhr vergeht die Zeit langsamer als für eine an einem Ort verweilende. Dies könnte sofort in der Schublade „nutzloses Wissen“ verschwinden, stellte es nicht ein solch sinniges Bild für das besagte Lebensprinzip dar, dass ein bewegtes erfülltes Leben langsamer verstreicht, z.B. weniger stark abweicht von der Zeitwahrnehmung eines Kindes, für das alles neu ist.

Von den Künsten ist die Musik der Zeit am nächsten. Nicht stofflich zu fassen, nur im Ablauf erfahrbar, wahrgenommen in rhythmischen Einheiten und Symmetrien erscheint sie dieser wesensverwandt und vermag tatsächlich z.B. in Filmen die Zeitwahrnehmung zu beschleunigen, zu verlangsamen, zeitbezüge herzustellen und ähnliches mehr.

Dem auch als Filmmusiker tätigen Komponisten Ralf Wienrich sind die musikalischen Techniken solcher Zeitspielereien nur allzu vertraut. Entsprechend gekonnt, facettenreich und lustvoll verwendet und variiert er sie in seinem Stück „Zeitdilatationen“:

Immer wieder unterteilt sich das Orchester in verschieden schnelle und verschieden unterteilte Zeitwahrnehmungen, Pulsschläge, – schnelle, langsame, Zweier-, Dreier, Vierer- Einheiten, gegen- und übereinander, dabei immer eingebettet in einem großen, zusammen funktionierenden Zusammenhang, einem harmonischen Miteinander, einem natürlichen Fluss. Kein Avantgarde-Stück über fliegende Cäsium-Atomuhren – sondern wie das Miteinander lauter verschieden tickender Menschen.

Text: Eckart Gadow