Maurice Ravel – Pavane pour une Infante défunte

Konzert des AOE am 06. Juni 2010 im Rathausfestsaal Erfurt

MAURICE RAVEL

Pavane pour une Infante défunte

Ma mere l’oye

 

Ravel orchestrierte die 1899 entstandene Klavierfassung der Pavane 1910. Diese Fassung erlebte am 25. Dezember 1911 in Paris ihre Uraufführung. Die Komposition ist „Madame la Princesse Edmond de Polignac“ gewidmet und erschien 1910 bei E. Demets in Paris. Ma mere l’oye entstand als Komposition für Klavier zu vier Händen am 20. September 1908 (I) und im April 1910 (II-V), die am 20. April 1910 uraufgeführt wurde. Im Jahre 1911 erarbeitete Ravel die Orchesterfassung, das Datum der Uraufführung ist ungewiss; die nochmals erweiterte Ballett-Fassung wurde am 28. Januar 1912 erstmals aufgeführt. Ma mere l’oye ist den Geschwistern Mimie und Jean Godebski gewidmet.

Maurice Ravel war ein Liebhaber der Märchenwelten und bekannte, nicht selten die Gesellschaft der Kinder der der Erwachsenen vorzuziehen. 1904 führte ihn sein Freund Ricardo Viñes (er spielte die Uraufführung der Klavierfassung der Pavane) in den Salon von Ida und Cipa Godebski ein, einem bedeutenden Treffpunkt der Pariser Kunst-Avantgarde um Jean Cocteau, Erik Satie, André Gide, Paul Valéry. In der Rolle des Dandy besuchte Ravel auch den – allerdings recht prätentiösen, von adeligen Kreisen bevorzugten – Kunstsalon der Nähmaschinen-Erbin Winnaretta Singer, spätere Prinzessin Edmond de Polignac, in dem Marcel Proust Inspiration für seine Recherche fand und u.a. Pablo Picasso, Coco Chanel, Oscar Wilde und Igor Strawinsky verkehrten. Ravels Gastgeber bzw. deren Kinder wurden bedacht mit kleinen Kompositionen, deren spätere Orchestrierung die zauberhaften Stimmungen der Sujets schwebend sinnlich, poetisch tiefgreifend – immer mit der gewissen, für Ravel typischen „reservierten Eleganz“ – wundervoll einfangen. DiePavane war schon zu Ravels Lebzeiten eine seiner bekanntesten und beliebtesten Kompositionen, von der Jean Cocteau meinte: „Heutzutage kaufen die jungen Mädchen statt des Gebets einer Jungfrau die Pavane pour une Infante défunte.“ Die schwermütige Traurigkeit betörte aber sicherlich nicht nur junge Mädchen. Die gedämpfte Bläsermelodie, die tänzerisch wiegende Begleitung der Streicher, die subtil schillernde Instrumentierung schmücken die ursprüngliche Klavierkomposition prächtig aus und berühren in ihrer sinistren Melancholie auch heute noch den Zuhörer.

Für Ma mere l’oye wurde Maurice Ravel von einer Märchensammlung Charles Perraults aus dem 17. Jahrhundert, den titelgebenden Märchen meiner Mutter, der Gans, den Märchen der Gräfin d’Aulnoy und der bekannten Geschichte Die Schöne und das wilde Tier von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont inspiriert. In der bewusst einfach gehaltenen, mitunter in archaischer Pentatonik gesetzten, behutsam sich entwickelnden, mit dramatischen Einschüben versehenen Komposition griff Ravel einerseits auf altertümliche äolische und lydische Modi zurück, kontrastiert diese aber mit moderner charakteristischer Chromatik, auffälliger, verfremdender Akkordverwendung (Nonen, Septimen, Sextakkorde). Naturalistische Vogelstimmen wurden ebenso imitiert wie etwa die neu entdeckte javanische Gamelanmusik des Fernen Ostens – und kommen in der Orchesterfassung viel effektvoller zur Geltung. Die Sätze der Komposition hat Ravel nach den bekannten Märchen benannt und einigen Zitate aus ihnen vorangestellt: Nr. 1: Dornröschens Pavane. Nr. 2: Der Däumling. – „Er glaubte, seinen Weg leicht wiederzufinden mit Hilfe seines Brotes, das er überall da, wo er entlanggekommen war, verstreut hatte. Aber er war sehr überrascht, als er davon keinen einzigen Brosamen wiederfinden konnte: Die Vögel waren gekommen und hatten alles aufgefressen.“ (Charles Perrault , Der Däumling) Nr. 3: Hutzelweibchen, Kaiserin der Porzellanfiguren – „Sie entkleidete sich und setzte sich ins Bad. Alsbald begannen chinesische Figuren und Figürchen zu singen und auf Instrumenten zu spielen: Einige hatten Lauten, die aus Nussschalen gemacht waren, andere aus Mandelschalen gefertigte Violen; denn die Instrumente mussten genau zu ihrer Größe passen.“ (Gräfin Marie Catherine d’Aulnoy, Das grüne Armband) Nr. 4: Die Gespräche der Schönen mit dem wilden Tier – „’Wenn ich an Ihr gutes Herz denke, dann erscheinen Sie mir nicht gar so hässlich.’ – ‚Oh! Verehrte, ja! Ich habe ein gutes Herz, aber ich bin ein Monster.’ – ‚Es gibt nicht wenige Männer, die monströser sind als Sie.’ – ‚Wenn ich Geist hätte, würde ich Ihnen ein großes Kompliment machen, um Ihnen zu danken, aber ich bin nur ein wildes Tier.’ – – – ‚Schöne, wollen Sie meine Frau sein?’ – ‚Nein, wildes Tier!…’ – – – ‚Ich sterbe zufrieden, weil ich das Vergnügen hatte, Sie noch einmal wiederzusehen.’ – ‚Nein, mein liebes wildes Tier, Sie werden nicht sterben: Sie werden leben, um mein Gemahl zu werden!’ … Das wilde Tier war verschwunden, und sie sah zu ihren Füssen nurmehr einen Prinzen, schöner als Amor, und er dankte ihr dafür, seine Verzauberung beendet zu haben.“ (Jeanne-Marie Leprince de Beaumont, Das Märchen von der Schönen und dem Biest) Nr. 5: Der Zaubergarten.

Programmheft-Texte von Alexander Krahnert.